Das schönste Martinslicht
Martin ist sehr stolz auf seine Laterne. Sie ist viereckig und aus roter Pappe geschnitten und geklebt. Die vier Seitenfelder sind aus durchsichtigem gelbem Papier. Darauf sind mit schwarzer Farbe eine Sonne, ein Mond, ein Stern und der heilige Martin auf seinem Pferd gemalt. Und diese Laterne hat Martin selbst gemacht. Anton, Vaters Gehilfe, hat ihm nur die Pappe zugeschnitten, und Ullis Vater hat ihm das Pferd und den Reiter vorgezeichnet. Nun schaukelt die schöne Laterne an einem langen Stock vor Martin her.
Alle Kinder aus der Lindenstraße wollen sich um sechs Uhr abends vor Herrn Bierbachs Laden treffen und dort mit dem Martinssingen anfangen. Sie bekommen jedes Jahr von Herrn Bierbach besonders leckere Sachen.
Fast alle sind schon da. Da kommen andere Kinder. Sie gehen gleich in Herrn Bierbachs Laden und singen.
„Das sind die aus der Erlenstraße“, sagt Andreas. „Was wollen die denn hier ? Herrn Bierbachs Laden gehört zu unserer Straße.“
Die fremden Kinder kommen aus dem Laden und gehen um die Ecke in den Tannenweg.
„Das ist eigentlich auch noch unser Gebiet“, sagt Johannes so laut, dass die anderen es hören müssen, und Martin sagt noch lauter: „Die sind aber frech !“
Jetzt gehen die Kinder aus der Lindenstraße auch zu Herrn Bierbach. Sie geben sich sehr viel Mühe mit dem Singen. Herr Bierbach schenkt ihnen Schokoladenriegel in Silberpapier, und sie sind zufrieden.
Martin ist noch bis zuletzt im Laden geblieben. Herr Bierbach wollte seine Laterne von allen Seiten betrachten. Martin läuft den anderen nach. Sie singen schon nebenan im Hausflur.
Da hört er im Tannenweg jemanden weinen. Ein kleiner Junge hockt an einer Hauswand. Martin kennt ihn nicht.
„Weshalb weinst du denn ?“ fragt er.
„Meine Laterne !“ sagt der Kleine. „Auf einmal hat sie gebrannt. Eine Frau ist gekommen und hat sie mir aus der Hand gerissen und hat mit den Füßen darauf herumgetrampelt !“
„Das ist aber schade !“ sagt Martin.
„Ich habe noch nie mitgehen dürfen, weil ich zu klein war“, sagt der Junge. „Und heute hat meine Mutter es endlich erlaubt, und jetzt habe ich keine Laterne mehr !“
„Im nächsten Jahr bekommst du eine neue“, sagt Martin.
„Aber ich möchte doch heute so gerne mitgehen !“
„Gehörst du zu denen aus der Erlenstraße ?“ fragt Martin. Der Junge nickt.
„Wie heißt du denn ?“
„Thomas heiße ich. Und du ?“
„Martin. Und jetzt lauf, sonst holst du die anderen nicht mehr ein. Du kannst auch ohne Laterne mitgehen.“
„Martin ?“ fragt Thomas. „Heißt du wirklich Martin, wie der Mann, der seinen Mantel verschenkt hat ?“
„Ja, ich heiße wirklich so.“
„Ach !“ sagt Thomas und wischt sich die Augen mit den schmutzigen Händen. Martin hebt seine Laterne hoch, seine schöne Laterne, und schwenkt sie hin und her.
„Die ist schön !“ sagt Thomas. „So schön war meine nicht. Aber sie war auch schön, ganz bunt.“
„Ich habe sie selbst gemacht“, sagt Martin. „Das war eine Arbeit !“ Er dreht die Laterne, er sieht noch einmal die Sonne, den Mond, den Stern und den Reiter an. Und dann gibt er dem Kleinen den Stock in die Hand und sagt: „Da ! Ich schenke sie dir.“
„Wirklich ?“ fragt Thomas. Aber Martin ist schon weggerannt. Er sieht sich nicht mehr um. Er läuft nach Hause und setzt sich an den Küchentisch, legt den Kopf auf die Arme und weint.
„Martin, Junge !“ sagt die Mutter. „Was ist ?“
Der Vater und Anton kommen auch dazu, und alle fragen, aber es dauert lange, bis Martin erzählen kann, was geschehen ist.
„Und jetzt tut es dir leid, dass du die schöne Laterne verschenkt hast ?“ fragt die Mutter.
Martin nickt.
„Dem heiligen Martin hat sein schöner Mantel bestimmt auch leid getan“, sagt Anton.
„Darum sollst du nicht weinen“ sagt der Vater.
Ursula Wölfel